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Industrie 4.0

am Beispiel der dezentralen Produktionssteuerung für die Automobilindustrie


Bisher sind industrielle Produktionsprozesse im Wesentlichen hierarchisch organisiert. Ihre Planung erfolgt auf den obersten Ebenen der Organisationshierarchie. Die Freiheitsgrade der Entscheidungen sind groß, deren Detailliertheit klein. Dadurch sind sie lediglich von oben nach unten, nicht jedoch über die Hierarchieebenen hinweg vernetzt. Das Forschungsprojekt SMART FACE greift diesen Umstand auf und entwickelt mit Unternehmen verschiedenster Branchen Lösungskonzepte.

Die Bedeutung von Prozesskennzahlen (KPIs – Key Performance Indicators) wird einer kontinuierlichen Umgewichtung unterliegen. Eine selbstorganisierende Anpassung der jeweils aktuellen Zielsetzungen wird viel stärker gefordert sein, als dies jetzt noch der Fall ist. Das gilt auch für den Planungs- und Produktionsprozess in der Automobilindustrie, in der jetzt schon kein Fahrzeug mehr dem anderen gleicht. Die Optimierung wird sich an wechselnden KPIs orientieren und sich viel stärker selbst organisieren.

Verknüpfung der physischen und virtuellen Welt  

Das Prinzip des Internets der Dinge (IoT) wird die Schaffung neuer Ordnungsstrukturen vorantreiben. Um die notwendigen Informationen zu erfassen, werden die einzelnen Dinge als sogenannte cyber-physische Systeme (CPS) ihre Umwelt über Sensoren wahrnehmen. Kameras, Abstandsmesser und andere Sensoren erfassen die Umgebung. Die Informationen werden gegebenenfalls onboard verarbeitet oder leiten ihre Informationen an Softwaredienste weiter. So werden die CPS in die Lage versetzt, autonome, auch KPI-orientierte Entscheidungen zu treffen und sich selbst zu organisieren. Das jetzige Internet ist die Vernetzung von Menschen und IT-Systemen. Heute können winzige IT-Systeme mit einer Leistungsfähigkeit früherer Personalcomputer fast unsichtbar an Gegenstände angebracht werden. Damit können beliebige Gegenstände sozusagen en passant mit einer Rechenpower ausgestattet werden, die die Gegenstände untereinander vernetzbar macht. Gegenstände und IT-Systeme verschmelzen. Sofern auf den IT-Systemen

Entscheidungsalgorithmen ausführbar sind, ist eine lokale Entscheidungsfähigkeit der Gegenstände realisierbar. In Produktionsprozessen werden in Zukunft Menschen, IT-Systeme und Gegenstände vernetzt arbeiten. Diese Vernetzung wird helfen, den scheinbaren Widerspruch zwischen der Vielfalt der Produktionsaufträge und der effizienten Organisation der Produktionsprozesse aufzulösen.

 

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SMART FACE vereint Industrie, IT & Logistik 

Um zu beweisen, dass dies keine Fiktion sein muss, hat ein Konsortium aus Unternehmen der Automobil- und Automobilzulieferindustrie, aus der Logistik- und IT-Branche sowie schließlich aus Instituten der angewandten und der direkten Forschung das Projekt SMART FACE ins Leben gerufen. SMART FACE ist ein Forschungsprojekt aus dem Bereich Autonomik 4.0, gefördert vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.

Der Gedanke hinter SMART FACE 

Im bisherigen Planungsprozess der Automobilproduktion wird in mehreren Hierarchiestufen vorgegangen. Zunächst werden bei der Jahresplanung Planzahlen für den Jahresabsatz festgelegt. Daraus abgeleitet ergeben sich die Jahresbedarfe für die Bauteile und die Komponenten, die aus den Stücklisten ermittelt werden können. Der Planungsspielraum ist zu diesem Zeitpunkt entsprechend groß, wird aber auf dieser Entscheidungshierarchieebene erstmalig verkleinert. In der Monatsplanung werden die langfristigen Lieferverträge und die Liefermengen mit den Zulieferern festgelegt. Gleichzeitig findet die grobe Planung der Ressourcen im ERP-System statt. In diesem Schritt verkleinert sich der mögliche Planungsspielraum erneut. Wobei er immer noch relativ viele Freiheitsgrade aufweist.

Aus der Monatsplanung wird im nächsten Schritt die Wochenplanung abgeleitet. Hier erfolgt eine Vorplanung der Produktionssequenz auf die Produktionslinien. Daraus werden die Lieferabrufe auf Sequenz- und Zeit-Slot-Ebene an die Lieferanten weitergeleitet. Änderungen sind noch möglich, aber der Aufwand hierfür steigt. In der Tagesplanung werden nun die Ressourcen festgelegt und eingefroren. Die Reihenfolge der Aufträge ist zeitlich und örtlich innerhalb der Schicht festgelegt. Alle Zulieferprozesse sind genau terminiert. Jede Störung oder die Notwendigkeit, eine Reihenfolge zu ändern, erfordert einen sehr großen Aufwand, der zum Stillstand des Produktionsprozesses führen kann.

Ziel des SMART FACE Projektes ist es, die Taktung der Tagesplanung aufzulösen und in ein selbstorganisierendes CPS zu überführen. Ein Auftragspool wird innerhalb eines Zeitfensters eigenständig abgearbeitet. Es entsteht ein Volumentakt (d. h. ein Produktionsvolumen pro Zeitscheibe). Eine der wesentlichen Visionen von Industrie 4.0, die “Individualisierung (Losgröße 1) zu den ökonomischen Konditionen eines Massenherstellers“, wird umgesetzt. Der Planungsspielraum im Produktionsprozess vergrößert sich wieder.

In der Serienfertigung nach dem Prinzip des Internets der Dinge gibt es keine Fertigungslinien mehr. Fertigungs- bzw. Montagestationen werden auf der „freien Fläche“ gebildet. Aus einem Lager stellen Versorgungsfahrzeuge die zu verbauenden Komponenten oder Bauteile an den Fertigungsstationen bereit. Die teilfertigen Aufträge werden, abhängig vom Montagefortschritt entweder auf selbstfahrenden Plattformen oder von einem fahrerlosen Transportsystem bewegt. Die vielen Entscheidungen, die dabei von den autonomen Einheiten zu treffen sind, werden KPI-orientiert unter dem Einsatz einer multikriteriellen Entscheidungsoptimierung berechnet. Dabei wird auf die aktuellen Werte der KPIs geachtet und nicht nur aus der Perspektive der globalen Ziele des Produktionsprozesses, sondern auch aus der lokalen Sicht der Aufträge, der Komponenten und der Bauteile entschieden. Der Mensch als kognitiver „Alleskönner“ überwacht den Prozess und garantiert die Flexibilität des Gesamtsystems.

Industrie 4.0 Magazin 2016

Industrie 4.0 Magazin 2015

Industrie 4.0 Magazin 2014